ZEITSPIEL weekly

7.8.2023

Pep Guardiola und die mentale Belastung der Nachspielzeit


Von Hardy Grüne

 
Wir erinnern uns: Die Spielzeit 2022/23 endete mit späten Toren in Osnabrück, Dortmund und Regensburg. In der angelaufenen neuen Saison 2023/24 scheint es damit weiterzugehen: Hansa Rostock dreht sein Spiel in Elversberg mit zwei Toren in der 90+10 bzw. 90+13 Minute. Das dürfte Rekord sein. Auch der HSV hadert in Karlsruhe (mal wieder) mit der Nachspielzeit, während die Hertha ihren Fehlstart in der 90+2 Minute gegen Aufsteiger Wehen komplett machte.

Auf der Insel schimpfte derweil Pep Guardiola über die Spielzeitverlängerung beim Duell um die Community Shield zwischen Manchester City und Arsenal, das seine Skyblues nach 90+11 Minuten doch noch aus der Hand gaben, um im Elfmeterschießen zu verlieren. Zunächst waren in Wembley acht Minuten angezeigt worden, die sich durch neue Verzögerung auf elf Minuten ausdehnten. Denn im Mutterland des Fußballs will man Zeitschindern neuerdings an den Kragen.

Señor Guardiola gefällt das nicht, er sieht nun offenbar das gesamte Konstrukt des Weltfußballs bedroht. Seine Zielscheibe: die „Superhirne“ der internationalen Verbände. Nun sind die tatsächlich an vielen Stellen zu kritisieren, aber sicher nicht an dieser. Guardiola ist anderer Meinung: „Denn sie fragen nie nach unseren Meinungen, nach denen der Leute im Weltfußball, der Trainer und Spieler. Wenn man 4:3 spielt und für jedes Tor 45 Sekunden draufschlägt, spielen wir morgen früh um 9 Uhr immer noch.“ 

Seine Tirade gegen die Neuerung gipfelte schließlich in der „mentalen und physischen Belastung der Spieler“.

Man könnte lachen, wäre es nicht so traurig. Seit vielen Jahren haben sich Spielunterbrechungen, Reklamationen, Ballwegschlagen etc. exorbitant gehäuft, wird der Spielfluss gezielt gestört, kommt man auf Nettospielzeiten von 70 Minuten und weniger. Einer von vielen Gründen, warum Fußball zuletzt an Unterstützung und vor allem auch an Respekt eingebüßt hat. Perfekt dargestellt in der Person von Neymar, dem Meister des Zeitspiels.

Schon bei der WM 2022 und aktuell bei der WM 2023 wurden üppige Nachspielzeiten angehängt, um das Spiel fairer zu machen. Ballwegschlagen, Reklamieren, Rudelbildung, Zeitspiel etc. werden rigoroser mit Gelben Karten bestraft. Eine absolut zu begrüßende Neuerung, die nur dann eine „mentale und physische Belastung der Spieler“ darstellt, wenn man sie durch den eigenen Tunnelblick betrachtet.

Bei etwas breiterem Sichtfeld wird deutlich: Das spielende Personal könnte sich ebenso wie der Trainerstab einfach darauf einstellen, die Gründe für die Spielverzögerungen der eigenen Mannschaft eliminieren und sich prompt wieder an „normalen“ Nachspielzeiten erfreuen. Das Problem sind nicht die Schiedsrichter oder die Verbände, das Problem sind die Spieler, die Trainer und die Einstellung. Von daher: Bitte weiter so, lasst uns so lange spielen, bis keiner mehr Lust hat, auf Zeit zu spielen!

Ortswechsel. Die Wochen vor dem Bundesligastart sind für den unterklassigen Fußball stets ein große Chance. 2. Bundesliga und 3. Liga stehen im Fokus, auf regionaler Ebene haben die Viert- und Fünftligisten die Bühnen für sich ganz alleine. Und schon jetzt ist ein weiterer Trend zu erkennen, der bereits in der abgelaufenen Spielzeit zu sehen war: Regionaler Fußball boomt (wieder)!

Die Leute haben Lust, im Stadion Fußball zu gucken und die eigene Lokalmannschaft anzufeuern. Aachen gegen Wuppertal lockte 27.000 ins neue Tivoli-Stadion (Wuppertal gewann übrigens durch ein „Last-Minute-Tor“ 2:1), Preußen Münster meldete gestern „ausverkauft“ bei seinem Heimspiel gegen BVB II und die Drittligaaufsteiger SSV Ulm 1846 und VfB Lübeck freuten sich über 9.500 bzw. 6.600 Zuschauer.

Das zeigt, dass Fußball trotz des allgegenwärtigen Krisengeredes lebt und dass er vor allem seine Kernidentität, nämlich Menschen zusammenzubringen, noch immer besitzt. Ist die Krise des Fußballs daher vielleicht einfach eine Krise des „großen Fußballs“? Wie schwer wir uns hierzulande mit Niederlagen tun, zeigte das unerwartete WM-Aus der Fußballfrauen. Auf allen Kanälen wurde von Hype und Enttäuschung gesprochen, das Drama des deutschen Fußballs beschworen. Einen Ansatz fand ich sehr interessant: durch die in den Nachwuchsleistungszentren konzentrierten Talente ist dort eine sportliche Überlegenheit entstanden, die den Talenten die Erfahrung von Niederlagen nimmt. Die NLZ sind die Blasen der Hochbegabten.


Da kommen wir direkt wieder zum unterklassigen Fußball. Wäre es nicht sinnvoll, Talente in ihren Heimatvereinen zunächst reifen und wachsen zu lassen, statt sie in frühen Jahren in die weiche Wattewelt der NLZ zu bringen? Stärkt es eine Spielerin nicht möglicherweise mehr, mit (beispielsweise) dem VfR 09 Saarbrücken als herausragende Akteurin aufzulaufen und Verantwortung für ein Team zu übernehmen, in dem keine weitere Spielerin an das eigene Talent heranreicht und damit die eigene Leadership-Kompetenz zu stärken?

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