ZEITSPIEL weekly

20.9.2023

 

Nationaltrainer Nagelsmann

 

Von Dietrich Schulze-Marmeling

  

Einige Anmerkungen zur Kritik an der Nagelsmann-Verpflichtung. Vorab ist jedoch zu klären: Wer stand überhaupt zur Verfügung? Viele waren es nicht. So toll ist der Job halt auch nicht. Das Fußball-Volk rief nach Jürgen Klopp, der aber den Liverpool-Job für attraktiver hält – und dies gut begründet. Dann hieß es: Der Rudi soll es machen! Völler als Teamchef, Sandro Wagner und Hannes Wolf für die Detailarbeit – das war für mich eine Option. Aber der Rudi will auch nicht. Die Rudi- und Kloppo-Fans sollten wissen: Julian Nagelsmann war Völlers erste Wahl. Und Klopp hält Nagelsmann für eine „ganz tolle Lösung, weil er ein toller Trainer ist.“ Also: Völler / Klopp kontra Nagelsmann, das macht keinen Sinn. 


Blieben noch Stefan Kuntz, Felix Magath, Louis van Gaal und Nagelsmann in der Verlosung. Für mich waren von diesen nur van Gaal und Nagelsmann interessante Optionen. 

 

Nun zur Kritik an der Personalie Nagelsmann: 

Der Mann ist zu jung und unerfahren: Jürgen Klopp zur Altersfrage: „Alter? Komplett egal! Er hat schon mit 28 bewiesen, dass er ein fantastischer Trainer ist. Er hat acht Jahre Erfahrung. Das haben andere mit 45 oder 50 – auf höchstem Niveau. Das ist überhaupt kein Kriterium.“ 

Julian Nagelsmann hat 2016 die TSG Hoffenheim vor dem Abstieg gerettet. Nagelsmann kennt sich also mit sportlichen Krisen aus und hat sich hier auch schon bewährt. In den folgenden Spielzeiten wurde er mit den Kraichgauern Dritter bzw. Vierter und qualifizierte sich mit der Mannschaft für die Europa League bzw. Champions League. Das war vielleicht eine größere Leistung als eine Meisterschaft mit dem FC Bayern. 


2018/19 wurde er mit RB Leipzig in der Bundesliga Dritter und erreichte das Halbfinale der Champions League. Außerdem entwickelte er den von Ralf Rangnick geprägten Spielstil positiv in Richtung mehr Ballbesitz und bereicherte das RB-Spiel um Guardiola’sche Elemente. Im Sommer 2021 dann der Wechsel zum FC Bayern und Deutscher Meister. 

Erfahrung ist zweifellos von Bedeutung –auch und gerade im Job eines Trainers. Im Nachhinein betrachtet hätte sich Nagelsmann den Schritt zu den Bayern vielleicht sparen sollen – zu Gunsten eines Zwischenschritts. Beim FC Bayern war vielleicht ein Problem, dass ihm niemand mit mehr Erfahrung in dem Job (zumal bei den Bayern…) zur Seite stand, um ihn in dieser oder jener Situation zu beraten. Bei der Nationalelf könnte dies nun Rudi Völler sein. 

 

Aber bei den Bayern wurde er nach anderthalb Jahren gefeuert: Richtig, spricht aber nicht gegen ihn. Denn damals hatten beim FC Bayer Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic das Sagen, die durch Nagelsmanns Entlassung ihren Job retten wollten. 


Als Nagelsmann gehen musste, hatte der FC Bayern souverän das Viertelfinale der Champions League erreicht. Von den zu diesem Zeitpunkt acht Spielen wurden alle gewonnen – Gegner waren u.a. Inter Mailand, der FC Barcelona und Paris St. Germain. In der Bundesliga lag man einen Punkt hinter dem BVB auf Platz zwei. Unter seinem Nachfolger Thomas Tuchel wurde es nicht besser. In der Champions League schied man aus, im DFB-Pokal ebenso. In der Bundesliga wurden Tuchels Bayern Meister, weil der BVB am letzten Spieltag einen zwei Punkte Vorsprung verspielte. Und Jamal Musiala in Köln in der 89. Minute zum 2:1 für die Bayern traf.    


Nagelsmann verfügt über deutlich mehr Trainer-Erfahrung im Profifußball als mancher seiner Vorgänger – so. u.a. Franz Beckenbauer, Berti Vogts, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann und Hansi Flick. Von Hoffenheim abgesehen, trainierte er Starensemble. D.h.: Er weiß, wie mit diesen umzugehen ist. Was nicht heißt, dass er diesbezüglich in der Vergangenheit keine Fehler gemacht hat. 

 

Nagelsmann hat null WM- oder EM-Erfahrung – nicht als Trainer und auch nicht als Spieler: Zunächst einmal gibt es das erste Mal für jeden Trainer. Außerdem galt dies auch 2004 für Otto Rehhagel, als er mit Griechenland Europameister wurde. Ebenso für Fernando Santos, der 2016 Portugal zum EM-Titel führte. Und 1998 für Frankreichs Weltmeister-Trainer Aimé Jacquet. 2001 sollte Christoph Daum Bundestrainer werden – ohne EM- und WM-Erfahrung. Und auch Jürgen Klopp, der Wunsch-Bundestrainer vieler Landsleute, hat noch nie eine EM- oder WM erlebt – nicht als Spieler, nicht als Trainer. 

 

Nagelsmann ist ein Laptop-Trainer: Bei dieser Bezeichnung bekomme ich immer die Krise. Sie wird besonders häufig von Männern über 60 strapaziert, die noch die Schreibmaschine kannten und sich durch die Entwicklung des Spiels (einschließlich der Benutzung von technischen Hilfsmitteln) abgehängt und in ihrer Meinung entwertet fühlen. 

Darunter befinden sich auch einige ältere Trainer. Wie beispielsweise Felix Magath, der kürzlich erklärte: Taktik sei nur etwas für schwächere Teams.

Richtig ist: Mit einer guten taktischen Einstellung können schwächere Teams die individuelle Überlegenheit eines Gegners neutralisieren. (Weshalb sich allerdings auch das individuell stärker besetzte Team Gedanken über seine Taktik machen sollte….) Richtig ist aber auch: Die besten Teams sind solche, bei denen individuelle Klasse mit anspruchsvoller Taktik fusioniert – wie z.B. Manchester City. Und wenn sich zwei Teams mit hoher individueller Klasse begegnen, ist manchmal die Taktik ausschlaggebend. 

Wir neigen dazu, Dinge, von denen wir keine Ahnung haben, die uns überfordern, mit denen wir uns nicht beschäftigen möchten, klein zu reden. 


Alle Top-Trainer, im Übrigen auch Jürgen Klopp, arbeiten heute mit technischen Hilfsmitteln und Spielanalysten.  

Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass der Begriff Laptop-Trainer dann gerechtfertigt ist, wenn es sich um Trainer handelt, die klassische Nerds sind, empathielos und ohne pädagogische Fähigkeiten. Die eine Mannschaft nicht motivieren können, die ihre Erkenntnisse nicht vermitteln können, die keinen Zugang zu den Köpfen und Herzen der Spieler finden. Aber trifft dies auf Julian Nagelsmann zu?  

 

Die kurze Laufzeit des Vertrags ist fragwürdig: Oder wie „Focus“ schreibt: „Damit senden sowohl der DFB als auch Nagelsmann Signale, die keinen Fußball-Fan in Deutschland positiv stimmen dürften. Kommt der Impuls für einen derart kurzen Vertrag von Seiten des DFB, zeigt das, dass der Verband nicht an eine Langzeitlösung Nagelsmann glaubt. Kommt der Impuls von Nagelsmann, fehlt eindeutig die entsprechende Bereitschaft, mit Herz und Seele Bundestrainer zu sein.“ 


Ich bin mir sicher: Hätte der DFB mit Nagelsmann einen Vertrag über drei bis fünf Jahre abgeschlossen, wäre der Aufschrei laut gewesen. Der (finanziell schwer gebeutelte) DFB läuft schon wieder in eine teure Abfindung hinein…Wir wissen doch noch gar nicht, ob der Bundestrainer Nagelsmann funktioniert… Was ist, wenn sich die DFB-Elf bei der EM blamiert…   


Und Nagelsmann? Dass er sich auf einen Vertrag mit kurzer Laufzeit einlässt, spricht für ihn. Denn Abfindungen sind ja finanziell nicht uninteressant…Im Vereinsfußball wissen die Trainer um die Gefahr einer Entlassung. Die bei Vertragsabschluss vereinbarte Laufzeit impliziert häufig bereits das „Schmerzensgeld“ für die (wahrscheinliche) vorzeitige Trennung – sozusagen ein Übergangsgeld bis zur nächsten Beschäftigung. 


Und dass man im Alter von erst 36 Jahren noch etwas mehr erleben will, als nur Bundestrainer zu sein, was weder der attraktivste, noch der lukrativste Job in der Branche ist, sollte nachvollziehbar sein. Dass sich einer mehrjährigen Karriere als Verbandstrainer noch eine große Karriere als Vereinstrainer anschließt, ist eher unwahrscheinlich. Da kann es schnell heißen: Er ist diese tagtägliche Arbeit mit einer Mannschaft und mehr als 50 Spieltagen pro Saison nicht mehr gewohnt. Es funktioniert eigentlich nur umgekehrt. 

By the way: Felix Magath (70) und Louis van Gaal (72) waren auch keine mittel-, geschweige denn langfristige Lösungen gewesen. Und Jürgen Klopp hat klar gesagt, dass er auch nach der EM 2024 nicht zur Verfügung stehen würde.

Ob Julian Nagelsmann auch als Bundestrainer ein Guter ist – schauen wir mal. 

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